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Die versteckten Kosten der Mitarbeiterfluktuation im Contact Center

Geschrieben von Marén Römisch | Mai 26, 2020

Der Abgang eines Mitarbeiters kostet Contact Center ca. 10.000 - 12.000€ - ganz unabhängig von der Beschäftigungsdauer. Wie kommen diese Kosten zustande? In einem Interview mit Coaching-Experten Gerd Conradt gehen wir der Sache auf den Grund.

Experteninterview

Hallo Gerd! Wir freuen uns, dass wir Dich als Experten zum Thema Mitarbeiterfluktuation befragen dürfen. Gerade für Contact Center war Mitarbeiterfluktuation schon immer ein wichtiges Thema. In den letzten Jahren hat es aber noch einmal deutlich an Relevanz gewonnen. Wie erklärst Du Dir diesen Trend?

Gerd Conradt: Für diesen Trend gibt es keinen konkreten Auslöser. Ich würde sogar einen Schritt weiter gehen und sagen, es gibt gar keinen richtigen Trend! Natürlich gibt es Faktoren, die die Diskussion um Mitarbeiterfluktuation immer wieder neu anheizen - Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und der Mangel an Fachkräften sind einige davon. Meiner Meinung nach ist es aber immer noch ein sehr vernachlässigtes Thema, das deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient. Gerade bei Contact Centern.

Was sind die typischen Probleme, die man mit einer zu hohen Mitarbeiterfluktuation in Verbindung bringt?

Gerd Conradt: Typischerweise denkt man bei Mitarbeiterfluktuation direkt an den Aufwand und die Kosten für die Neubesetzung. Natürlich ist es auch immer schade um das Wissen, das mit dem ehemaligen Mitarbeiter verloren geht. Auch die erbrachte Leistung muss mit der verbliebenen Belegschaft aufgefangen werden.

Ist dies zu kurz gedacht? Welche weiteren Negativfolgen können entstehen?

Gerd Conradt: Das ist definitiv zu kurz gedacht. Eine zu hohe Mitarbeiterfluktuation in Contact Centern bringt zahlreiche Probleme mit sich, die man auf den ersten Blick nicht sieht. Ehemalige Mitarbeiter machen ihrem Frust heutzutage online transparent Luft, zum Beispiel über Bewertungsportale wie Kununu. Das kann schnell geschäftsschädigend sein und verhindern, dass ausreichend qualifiziertes Personal nachrückt. Das wohl gravierendste Problem ist jedoch die finanzielle Auswirkung. Viele Führungskräfte sind sich im Klaren darüber, dass das Rekrutieren neuer Mitarbeiter mit Kosten verbunden ist. Allerdings gibt es viele versteckte Kostenfaktoren, die nicht bedacht werden - der Abgang eines Mitarbeiters ist tatsächlich eher im fünfstelligen Bereich zu veranschlagen. Das ist eine enorme Summe - und ein enormes Einsparpotenzial!

Welche Kosten entstehen für Contact Center beim Abgang eines Mitarbeiters ganz konkret?

Gerd Conradt: Schauen wir uns einmal die Kosten für Agenten genauer an, denn dort ist die Fluktuationsrate typischerweise am höchsten. Jeder einzelne Agent, der das Contact Center verlässt, wirft ca. 10.000-12.000 € an Folgekosten auf - ganz unabhängig von seiner Beschäftigungsdauer! Bei einer Belegschaft von 100 Agenten und einer jährlichen Fluktuationsrate von 20 % sind das bereits im Durchschnitt 220.000 € im Jahr. Bei den meisten Contact Centern sind diese Kosten nahezu komplett unbudgetiert und sie werden auch nicht nachgehalten. 

10.000 - 12.000 Euro Folgekosten durch den Abgang eines einzelnen Arbeitnehmers - das ist eine beeindruckende Zahl. Wie setzt sich diese Summe zusammen?

Gerd Conradt: Darin enthalten sind sehr viele Kostenfaktoren, von denen die meisten leider „unter dem Radar” fliegen. 

Schauen wir uns zunächst einmal die Kosten für die Neubesetzung und Einarbeitung eines neuen Mitarbeiters an. Schon allein unter diese beiden Punkte fallen viele versteckte Kostenposten: Von der Entlohnung für etwaige Personalberater, dem Aufsetzen der Stellenanzeige bis hin zu den anfallenden Personenstunden für HR und diverse Fachabteilungen. Interne Abstimmungen, Sichtung der Bewerbungen, Einstellungsformalitäten, das Durchführen von Interviews - all das kostet wertvolle Ressourcen.

Man muss auch einberechnen, dass Agenten gerade am Anfang der Einarbeitung nicht direkt 100 % Leistung erbringen können. Und neue Mitarbeiter arbeiten nicht nur langsamer, sondern machen auch mehr Fehler - und selbst die können in einem so effizienzgetriebenen Umfeld finanziell beziffert werden. Ein weiterer Kostenpunkt sind Kollegen, die mit der Einarbeitung des neuen Angestellten betraut werden. In der Regel leidet auch deren Produktivität erheblich. 

Hinzu kommt, dass der ausscheidende Mitarbeiter durch seinen Abgang konkrete Kosten im Unternehmen verursacht. Oft müssen Urlaubstage ausgezahlt, ein Arbeitszeugnis erstellt oder ein Exit-Gespräch geführt werden. Nicht zu unterschätzen ist die verminderte Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmern, die sich vorgenommen haben, zu gehen. Wenn man „geistig” bereits gekündigt hat, aber noch z.B. aufgrund von Kündigungsfristen Zeit absitzen muss, ist man in dieser Situation deutlich weniger produktiv als ein zufriedener Kollege.

Oft vergessen werden auch die eventuellen Mehrbelastungen: Durch die Einrichtung des neuen Arbeitsplatzes, Doppelbesetzungen einer Stelle, Überstunden durch das Anlernen des neuen Kollegen… all diese Faktoren müssen in eine ganzheitliche Berechnung unbedingt einfließen. 

Fluktuation beginnt schon vor dem Onboarding. Eine beliebte Kostenfalle ist es, unzureichend qualifizierte Mitarbeiter einzustellen. Durch den Mangel an Arbeitnehmern werden gerne die Eingangsvoraussetzungen abgesenkt oder es wird am Personaldienstleister gespart. Die Folge: Die freie Stelle wird mit einem unpassenden Kandidaten besetzt. Selbst wenn dieser bereits in zwei Wochen wieder kündigt oder gekündigt wird, verursacht er dieselben Folgekosten wie ein langjährig performanter Mitarbeiter. Und die Kostenlawine wird erneut ausgelöst - leise und größtenteils unbemerkt.

Das klingt alarmierend. Ist Fluktuation denn grundsätzlich negativ oder gibt es auch positive Aspekte?

Gerd Conradt: Fluktuation ist nicht prinzipiell negativ. Eine vom Unternehmen gesteuerte und kontrollierte Fluktuation ist sogar sehr positiv und wichtig! Mit neuen Arbeitnehmern holt man sich auch neue Gedanken und Herangehensweisen ins Unternehmen. Fluktuation kann auch intern ablaufen, z.B. wenn ein Agent zum Teamleiter aufsteigt. Das ist ein positives und wichtiges Zeichen, dass Jobperspektiven innerhalb des Unternehmens bestehen. Auch hier gilt es, eine Balance zu schaffen und eine gesunde Fluktuationsrate zu wahren.

Wie viel Fluktuation (%) ist denn vertretbar?

Gerd Conradt: Die meisten Contact Center weisen eine Fluktuation von 5-30 % auf. Einstellige Fluktuationsquoten sind ein Indikator für einen gesunden Mitarbeiterstab. Je nach Zusammensetzung der Belegschaft kann die Fluktuation auch leicht höher und dennoch vertretbar sein, z.B. wenn man viele studentische Hilfskräfte einsetzt. Auch wenn das immer auf den Einzelfall ankommt: Ab einer Fluktuationsrate von 15 % sollten bei Contact Centern die Alarmglocken läuten. Hier verbirgt sich oft ein hohes Optimierungs- und Einsparpotenzial. 

Was sind die häufigsten Gründe für eine zu hohe Fluktuation?

Gerd Conradt: Es gibt einen zentralen Auslöser, der in fast jedem Fall den Ausschlag gibt: Unzufriedenheit mit dem Führungspersonal. Die meisten Agenten kündigen nicht mit der Aussicht auf eine interessantere Tätigkeit oder mehr Gehalt. Ein bekanntes Sprichwort lautet: Arbeitnehmer verlassen nicht das Unternehmen, sondern ihre Führungskraft. Das ist nicht verwunderlich, denn die meisten Problemgebiete - schlechtes Betriebsklima, fehlende Anerkennung, ineffiziente Prozesse, Überforderung, intransparente Kommunikation uvm. - sind eine direkte Folge schlechter Führung.

Dazu habe ich auch eine interessante Anekdote. In meiner Tätigkeit als Berater habe ich einmal Führungskräfte von zwei Teams aus verschiedenen Standorten miteinander getauscht, um genau diesen Effekt zu untersuchen. Das Ergebnis: Die Führungskraft bewirkte langfristig immer eine ähnliche Fluktuationsrate im Team, egal an welchem Standort oder in welcher Abteilung sie eingesetzt wurde. Dieses Experiment ist natürlich rein empirisch und keine wissenschaftliche Studie. Aber es bestätigt meine sonstigen Erfahrungen. Die Führungsebene hat einen enormen Einfluss auf das Betriebsklima und die Fluktuation der Arbeitnehmer. Und das, obwohl sich nichts an der Tätigkeit des Arbeitnehmers selbst ändert! Eine hohe Fluktuationsrate kann also auch als Qualitätsmerkmal für die Führungsebene verstanden werden - oder liefert zumindest einen ersten Anhaltspunkt.

Wie können Contact Center einer hohen Fluktuation entgegenwirken?

Gerd Conradt: Absolut notwendig ist es, als ersten Schritt überhaupt erstmal ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen. Die Fluktuationsrate sollte als wichtige Metrik im Contact Center erkannt und dauerhaft gemessen werden. Schon allein dies ist leider in vielen Contact Centern nicht der Fall. In meinen Beratungen nutze ich daher gerne ein simples Excel-Tool, um die finanziellen Auswirkungen der Fluktuation sichtbar zu machen. Vielen Managern ist gar nicht bewusst, wie viel Einsparpotential alleine durch ein Absenken der Fluktuationsrate möglich ist.

Als nächstes sollte die Fluktuationsrate als Qualitätsindikator für die Führung verstanden und Führungskräfte daran gemessen werden. Hier wird ein weiteres Problem deutlich: Viele Contact Center investieren zu wenig Ressourcen in eine kontinuierliche Ausbildung ihrer Teamleiter und Manager. Kompetenzen wie Kommunikationsstärke, Empathie und Konfliktbewältigung sind jedoch erlernbar und helfen bei der Prävention von Mitarbeiterunzufriedenheit. Gut ausgebildete Führungskräfte verlassen regelmäßig ihre Komfortzone, können auch unangenehme Gespräche professionell führen und deeskalieren potentiell kritische Situationen frühzeitig. Das wirkt Wunder - und führt zu einer geringeren Fluktuationsrate. 

Vielen Dank für das Interview!

Gerd Conradt ist seit über 20 Jahren in diversen Führungsfunktionen in der Contact-Center-Branche tätig und seit 2013 selbstständiger Berater und Geschäftsführer bei „Coachingkompetenz“. Als Experte der Servicebranche coacht er Führungskräfte und erarbeitet dabei u.a. Blended Learning/Coaching-Modelle sowie Online-Onboarding-Konzepte. Sein Credo: Führung ist wie Leistungssport. Wer nicht regelmäßig trainiert, verliert schnell den Anschluss.

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